Gnade versus Verlassenheit (2)

Ein Newsweek-Artikel berichtet, dass amerikanische Väter der Mittelklasse durchschnittlich 15-20 Minuten täglich mit ihren Kindern verbringen. In vielen Fällen sind sie beziehungsmäßig abwesend, selbst wenn sie körperlich anwesend sind. Wir brauchen Männer, die in ihrem Leben ihre Familien an erste Stelle ihrer Prioritäten setzen. Männer, die ihren Kindern ebensoviel von sich selbst geben, wie sie es bei ihrer Arbeit tun. (James Harnisch) 
Noch nie wurde so viel geredet und geschrieben über die "Vaterlosigkeit in unserer Gesellschaft" wie heute. Natürlich hat jedes Kind einen biologischen Vater, aber auch wenn dieser im gemeinsamen Haushalt mit seinen Söhnen und Töchtern lebt, bedeutet dies noch lange nicht, dass er tatsächlich für seinen Familie über seine Rolle als Geldgeber hinaus zur Verfügung steht. (Roswitha Wurm, Vaterseelenallein, aus LYDIA 3/2013)

Warum ich das alles schreibe ist ganz einfach: Ich bin kein Einzelfall; meine Geschichte ist klischeeverdächtig. Wenn ich unterwegs bin und meine Straßenbahngefährten beobachte, stelle ich mir manchmal nur eine Frage: Wie ist wohl die Beziehung zu ihren Vätern? Die Antwort ist fast immer die Gleiche. (Obwohl ich zugeben muss, dass ich darüber nur spekulieren kann.)
    Mein Großvater hat seinen Vater nie kennengelernt, der so um anno 1930 nach Argentinien auszog, während er (mein Großvater) bei seinen Tanten aufwuchs. Ein paar Jahrzehnte ist es schon her, als die Mutter meines Großvaters in einem verwahrlosten Zustand an seinem Arbeitsplatz (Steuerprüfung) erschien. Die Ehe dürfte nicht sehr glücklich gewesen sein. Vor ein paar Wochen meinte mein Opa, er hätte gern noch erfahren, was damals schief gelaufen war, dass aber vermutlich niemand mehr am Leben sei, der ihm eine Antwort geben könnte. Als er sagte, dass dies die Geheimnisse des Lebens seien, die man nie erfahren werde, erkannte ich die Menge an unbeantworteten Fragen, die in seinem Innersten wirbelten. Warum hatte ihn sein Vater zurückgelassen? Warum verwahrloste seine Mutter? Warum hatte man ihn verlassen? Mein Großvater hatte keinen Vater. Die Wunde, die dabei entstand, als er verlassen wurde, ist bis heute nicht geheilt.

In gewisser Weise kann ich meine Mutter nicht vergessen. Es ist fast schon ein Verlangen, bei ihr zu sein. Trauer ist viel schwieriger zu ertragen, wenn man sich nicht versöhnt hat. Und wenn der Tod kommt, ist der Konflikt für immer eingefroren. (Irwin D. Yalom)


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Die Ampel wurde grün, der Verkehr kam in die Gänge und wir gingen aneinander vorüber, jeder auf die von ihm aus gegenüberliegenden Straßenseite, ohne uns besondere Beachtung geschenkt zu haben. Aber als ich mich noch einmal umdrehte um den Mann zu beobachten, der meinem Vater so ähnlich sah, wie er alleine am Straßenrand entlang ging und sich immer weiter von mir entfernte, spürte ich ein heftiges Ziehen in seine Richtung. Es gibt ein bedeutendes Verlangen im Herzen jedes Menschen, dass man nur schwer beschreiben kann. Meistens ist es verschüttet worden; aber auf die eine oder andere Weise dringt es immer an die Oberfläche und wird mit Dingen gestillt, die damit scheinbar nichts zu tun haben. Wenn man keine Antwort auf diese Vatersehnsucht hat, kann das im schlimmsten Fall zur Selbstzerstörung führen. Ich kann hier in aller Kürze nur andeuten, wie schmerzhaft es sein kann, keinen Vater zu haben, oder keinen, der für einen da ist und wie tief diese Suche nach einem Vater in jedem Menschen steckt. Die Meisten wissen nicht, wonach sie suchen und ich beobachte, dass es auch die meisten Christen nicht wissen. Sie strecken ihre Hand aus, aber sie wissen nicht wonach. Sie wissen nicht, was sie erhalten werden, wenn sie ihre Hand wieder zurückziehen. Ich habe mich oft gefragt, was uns überhaupt dazu treibt, die Dinge zu tun, die wir tun. Was ist es, was wir wollen? Irgendwo muss dieses Wollen doch herkommen! Was ist es, was wir im Grunde unserer Seele eigentlich wollen? Und warum stellen wir fest, je älter wir werden, dass es nie genug ist?

Mir scheint, die wichtigste Suche im Leben ist die Suche des Menschen nach seinem Vater. Nicht in erster Linie nach dem leiblichen Vater, auch nicht nach dem verlorenen Vater seiner Kindheit. Die Suche des Menschen gilt dem Inbegriff der Stärke und Weisheit, etwas außerhalb seiner selbst und seiner Bedürnisse, etwas weit Überlegenem, mit dem der Glaube und die Kraft des eigenen Lebens sich verbinden können. (Thomas Wolfe, The Story of a Novel)

Thomas Wolfe hat hier vielleicht den Kern unseres ganzes Strebens freigelegt: Etwas weit Überlegenes, mit dem der Glaube und die Kraft des eigenen Lebens sich verbinden können. Ich weiß, dass das ziemlich abstrakt und langweilig klingt, aber ich kann's im Moment nicht besser auf den Punkt bringen. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, wer es ist, der uns geben kann, was wir suchen, ob wir das nun in unseren Herzen wissen oder nicht. Und ich möchte euch herausfordern, eine Antwort auf diese Frage zu suchen: Wer ist GOTT?


Der Inbegriff von Stärke und Weisheit
Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus! [...]
In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen, nach dem Reichtum seiner Gnade, die er uns reichlich gegeben hat in aller Weisheit und Einsicht. Er hat uns ja das Geheimnis seines Willens zu erkennen gegeben nach seinem Wohlgefallen, das er sich vorgenommen hat in ihm für die Verwaltung bei der Erfüllung der Zeiten; alles zusammenzufassen in dem Christus, das, was in den Himmeln, und das, was auf der Erde ist - in ihm. [...]
Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr wisst, was die Hoffnung seiner Berufung, was der Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen und was die überragende Größe seiner Kraft an uns, den Glaubenden, ist, nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke. Die hat er in Christus wirksam werden lassen, indem er ihn aus den Toten auferweckt und zu seiner Rechten in der Himmelswelt gesetzt hat hoch über jede Gewalt und Macht und Kraft und Herrschaft und jeden Namen, der nicht nur in diesem Zeitalter, sondern auch in dem zukünftigen genannt werden wird.
Epheser 1, Vers 3a, Vers 7-10 und 18-21

Wenn es einen Inbegriff von Stärke und Weisheit gibt, dann ist das der dreieinige Gott selbst!

Ich weiß nicht, ob die bunten Farben hilfreich oder irritierend sind, aber allein die Schlagworte, die in Verbindung mit Gottes Wesen und Handeln verwendet werden, verweisen auf seine schreckliche Heiligkeit: Reichtum - Macht - Gnade - Kraft - Berufung - Herrschaft - hoch über jede Gewalt - Hoffnung - Herrlichkeit - überragende Größe - Stärke - Wirksamkeit - Wille - Weisheit und Einsicht - 



Vater.

Gnade versus Pornographie (1)

Vor vielen Jahren kam ich zu der Erkenntnis, dass es zwei Hauptgründe für die meisten Probleme im emotionalen Bereich bei evangelikalen Christen gibt: Einmal das Versagen, Gottes unbedingte Gnade und Vergebung zu verstehen, zu empfangen und auszuleben; und zum zweiten das Versagen, diese bedingungslose Liebe, Vergebung und Gnade auch weiterzugeben. Wir glauben an eine gute Theologie der Gnade. Aber wir leben nicht danach. Die gute Nachricht des Evangeliums der Gnade hat unsere Gefühlsebene nicht erreicht.
(David Seamands, Perfectionism: Fraught with Fruits of Self-Destruction, in Christianity Today vom 10. April 1981)

Dieser kurze Abschnitt, den ich zum ersten Mal in Philip Yanceys Buch Gnade ist nicht nur ein Wort gelesen hatte, ist mir bis heute eine profunde Denksportaufgabe geblieben, die eine Wahrheit beinhaltet, die anziehend und schockierend zugleich ist. Mit Seamands‘ Worten ging es mir wie mit der Vorbereitung auf eine Mathematik-Schularbeit. Du lernst den Stoff und rechnest alle Beispiele mit Bravour und glaubst, alles verstanden zu haben – und selbst bei der Schularbeit hast du das Gefühl, dass alles glatt läuft – und als du den Fetzen zurück bekommst, fragst du dich, wie es möglich war, so falsch zu liegen. Ich dachte, verstanden zu haben, was Seamands meint. Dann kam die Schularbeit (=Schwierigkeiten, Probleme, Anfechtungen, tough life und so, das reale Leben, eine Gruppe Gangster, die dich angehen und solche Sachen, kennt man ja), dann kam die Schularbeit und mit ihr der Fetzen. (Ich hatte nie wirklich einen Fetzen in Mathe, aber es ist ein gutes Beispiel.) Ich gebe euch heute einen kleinen Einblick in mein Abschlusszeugnis – Unterrichtsfach: Angewandte Gnade.


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Meine Mutter hatte in meiner Kindheit eine quälende Art mich zu verletzen, die mir damals (übrigens bewundere ich meine Mutter heute mehr als jemals zuvor!), die mir damals äußerst sadistisch vorkam. Jedes Mal, wenn sie wütend auf mich war, pflegte sie in mein Zimmer zu kommen und ihrem Zorn verbal freien Lauf zu lassen. Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, sammelte sie mehr Wut im Staudamm ihrer Seele, um die Dammmauer in meinem Zimmer erneut aufzubrechen. Das konnte sich bis zu sechs Mal wiederholen, was von Mal zu Mal unerträglicher wurde. Das Schweigen zwischen meiner Mutter und mir wurde in den folgenden Jahren immer wieder nach diesem Schema unterbrochen. Angeblich sollen sich tägliche Kränkungen schlimmer auf uns auswirken, als die Schicksalsschläge des Lebens.

In der Volksschule versprach ich meiner Mutter auf dem Nachhauseweg triumphierend: "Ich werde immer ein Brävelchen sein." Ich schwor mir damals, mit all der Entschlusskraft die eine verbitterte Kinderseele aufbringen kann, ihr nie wieder einen Anlass zu geben, auf mich wütend zu werden. Ich dachte, meine Mutter hätte vollkommen recht, auf mich zornig zu sein. Ich dachte, ich hätte ihre Wut verdient und die darauf folgende Einsamkeit und Isolation. Als Kind kann man noch nicht zwischen dem, was recht ist und was nicht, unterscheiden. Folglich galt es als brav, sich der Einsamkeit auszusetzen und verschlossen den Schmerz zu ertragen. Das gab mir ein Gefühl von Rechtschaffenheit und Stärke. Ich blieb meinem Schwur treu, den ich damals gefasst hatte, ungeachtet der zerreißenden Sehnsucht nach Nähe...

Vielleicht ist diese Frage überspitzt, aber ich frage mich, wie man als Kind so einen abgründigen Zwiespalt mehrere Jahre erleben kann, ohne sich umzubringen. Antwort: Die ständige Suche nach einem Ersatz für fehlende Nähe. 



Wer er ist und was er drauf hat, das lernt der Junge von einem Mann oder in der Gesellschaft von Männern. Er kann es nirgendwo anders lernen. Er kann es nicht von anderen Jungen lernen, und er kann es auch nicht von Frauen lernen. Vom Beginn der Welt an war es so geplant, dass der Vater im Herzen des Sohnes das Fundament legt und ihm alles Wesentliche mitgibt - auch das Selbstvertrauen in die eigene Stärke. Papa sollte der erste Mann in seinem Leben sein, und er würde für immer der wichtigste Mann bleiben. Ihm war auch aufgetragen, die Frage zu beantworten und ihm einen Namen zu geben. Der biblischen Überlieferung zufolge hat von allem Anfang an immer der Vater den Segen erteilt und hat im selben Zug den Sohn 'benannt'. [...] Die Frage, ist die Frage, die jeder Junge und Mann sich permanent stellt. Habe ich es drauf? Habe ich die Kraft? Bis ein Mann weiß, dass er einer ist, so lange wird er wieder und wieder versuchen zu beweisen, dass er einer ist. Zugleich wird er vor jeder Aufgabe zurückschrecken, die möglicherweise offenbaren könnte, dass ihm etwas fehlt. Viele Männer quälen sich ein Leben lang mit dieser Frage herum - oder sind innerlich verkrüppelt durch die Antworten, die man ihnen gegeben hat. (John Eldredge, Der ungezähmte Mann)


Die Antwort auf die Frage, was es bedeute ein Mann zu sein, die ich in meinem Innersten so tief verschlossen hatte, dass nicht einmal ich selbst davon wusste, lautete: Ein Mann braucht keine Gemeinschaft mit anderen. Ein Mann muss die Einsamkeit ertragen. 
   Ich verstand mich damals selbst nicht. Ich verstand nicht, warum ich immer so "komisch" war, warum ich ständig vor dem PC hockte, warum ich so elend war, warum der Liebeskummer so extrem war oder warum ich stundenlang Gitarre spielte und komponierte, warum ich eine 120 Seiten lange Geschichte schrieb, die keinen Sinn hatte, warum ich die untragbare Last auf mich nahm und mich immer mehr darauf fixierte, mir ohne Gott Erfüllung und Trost verschaffen zu wollen indem ich mich selbstbefriedigte und regelmäßig Pornographie sehen wollte, obwohl ich die Scham im Anschluss darauf so sehr hasste, warum ich Gott um Vergebung bat, aber völlig unfähig war, außer Scham und Angst etwas dabei zu empfinden, warum ich so stolz war, zu denken, ich könnte es alleine schaffen, obwohl es von Tag zu Tag schlimmer mit mir wurde. Offensichtlich kann kein Mensch mit solchen Überzeugungen leben, ohne sich selbst und andere zu zerstören. Eines wusste ich zu dieser Zeit nämlich noch nicht: Gnade ist nicht nur ein Wort.


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... Fortsetzung folgt