Gnade versus Pornographie (1)

Vor vielen Jahren kam ich zu der Erkenntnis, dass es zwei Hauptgründe für die meisten Probleme im emotionalen Bereich bei evangelikalen Christen gibt: Einmal das Versagen, Gottes unbedingte Gnade und Vergebung zu verstehen, zu empfangen und auszuleben; und zum zweiten das Versagen, diese bedingungslose Liebe, Vergebung und Gnade auch weiterzugeben. Wir glauben an eine gute Theologie der Gnade. Aber wir leben nicht danach. Die gute Nachricht des Evangeliums der Gnade hat unsere Gefühlsebene nicht erreicht.
(David Seamands, Perfectionism: Fraught with Fruits of Self-Destruction, in Christianity Today vom 10. April 1981)

Dieser kurze Abschnitt, den ich zum ersten Mal in Philip Yanceys Buch Gnade ist nicht nur ein Wort gelesen hatte, ist mir bis heute eine profunde Denksportaufgabe geblieben, die eine Wahrheit beinhaltet, die anziehend und schockierend zugleich ist. Mit Seamands‘ Worten ging es mir wie mit der Vorbereitung auf eine Mathematik-Schularbeit. Du lernst den Stoff und rechnest alle Beispiele mit Bravour und glaubst, alles verstanden zu haben – und selbst bei der Schularbeit hast du das Gefühl, dass alles glatt läuft – und als du den Fetzen zurück bekommst, fragst du dich, wie es möglich war, so falsch zu liegen. Ich dachte, verstanden zu haben, was Seamands meint. Dann kam die Schularbeit (=Schwierigkeiten, Probleme, Anfechtungen, tough life und so, das reale Leben, eine Gruppe Gangster, die dich angehen und solche Sachen, kennt man ja), dann kam die Schularbeit und mit ihr der Fetzen. (Ich hatte nie wirklich einen Fetzen in Mathe, aber es ist ein gutes Beispiel.) Ich gebe euch heute einen kleinen Einblick in mein Abschlusszeugnis – Unterrichtsfach: Angewandte Gnade.


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Meine Mutter hatte in meiner Kindheit eine quälende Art mich zu verletzen, die mir damals (übrigens bewundere ich meine Mutter heute mehr als jemals zuvor!), die mir damals äußerst sadistisch vorkam. Jedes Mal, wenn sie wütend auf mich war, pflegte sie in mein Zimmer zu kommen und ihrem Zorn verbal freien Lauf zu lassen. Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, sammelte sie mehr Wut im Staudamm ihrer Seele, um die Dammmauer in meinem Zimmer erneut aufzubrechen. Das konnte sich bis zu sechs Mal wiederholen, was von Mal zu Mal unerträglicher wurde. Das Schweigen zwischen meiner Mutter und mir wurde in den folgenden Jahren immer wieder nach diesem Schema unterbrochen. Angeblich sollen sich tägliche Kränkungen schlimmer auf uns auswirken, als die Schicksalsschläge des Lebens.

In der Volksschule versprach ich meiner Mutter auf dem Nachhauseweg triumphierend: "Ich werde immer ein Brävelchen sein." Ich schwor mir damals, mit all der Entschlusskraft die eine verbitterte Kinderseele aufbringen kann, ihr nie wieder einen Anlass zu geben, auf mich wütend zu werden. Ich dachte, meine Mutter hätte vollkommen recht, auf mich zornig zu sein. Ich dachte, ich hätte ihre Wut verdient und die darauf folgende Einsamkeit und Isolation. Als Kind kann man noch nicht zwischen dem, was recht ist und was nicht, unterscheiden. Folglich galt es als brav, sich der Einsamkeit auszusetzen und verschlossen den Schmerz zu ertragen. Das gab mir ein Gefühl von Rechtschaffenheit und Stärke. Ich blieb meinem Schwur treu, den ich damals gefasst hatte, ungeachtet der zerreißenden Sehnsucht nach Nähe...

Vielleicht ist diese Frage überspitzt, aber ich frage mich, wie man als Kind so einen abgründigen Zwiespalt mehrere Jahre erleben kann, ohne sich umzubringen. Antwort: Die ständige Suche nach einem Ersatz für fehlende Nähe. 



Wer er ist und was er drauf hat, das lernt der Junge von einem Mann oder in der Gesellschaft von Männern. Er kann es nirgendwo anders lernen. Er kann es nicht von anderen Jungen lernen, und er kann es auch nicht von Frauen lernen. Vom Beginn der Welt an war es so geplant, dass der Vater im Herzen des Sohnes das Fundament legt und ihm alles Wesentliche mitgibt - auch das Selbstvertrauen in die eigene Stärke. Papa sollte der erste Mann in seinem Leben sein, und er würde für immer der wichtigste Mann bleiben. Ihm war auch aufgetragen, die Frage zu beantworten und ihm einen Namen zu geben. Der biblischen Überlieferung zufolge hat von allem Anfang an immer der Vater den Segen erteilt und hat im selben Zug den Sohn 'benannt'. [...] Die Frage, ist die Frage, die jeder Junge und Mann sich permanent stellt. Habe ich es drauf? Habe ich die Kraft? Bis ein Mann weiß, dass er einer ist, so lange wird er wieder und wieder versuchen zu beweisen, dass er einer ist. Zugleich wird er vor jeder Aufgabe zurückschrecken, die möglicherweise offenbaren könnte, dass ihm etwas fehlt. Viele Männer quälen sich ein Leben lang mit dieser Frage herum - oder sind innerlich verkrüppelt durch die Antworten, die man ihnen gegeben hat. (John Eldredge, Der ungezähmte Mann)


Die Antwort auf die Frage, was es bedeute ein Mann zu sein, die ich in meinem Innersten so tief verschlossen hatte, dass nicht einmal ich selbst davon wusste, lautete: Ein Mann braucht keine Gemeinschaft mit anderen. Ein Mann muss die Einsamkeit ertragen. 
   Ich verstand mich damals selbst nicht. Ich verstand nicht, warum ich immer so "komisch" war, warum ich ständig vor dem PC hockte, warum ich so elend war, warum der Liebeskummer so extrem war oder warum ich stundenlang Gitarre spielte und komponierte, warum ich eine 120 Seiten lange Geschichte schrieb, die keinen Sinn hatte, warum ich die untragbare Last auf mich nahm und mich immer mehr darauf fixierte, mir ohne Gott Erfüllung und Trost verschaffen zu wollen indem ich mich selbstbefriedigte und regelmäßig Pornographie sehen wollte, obwohl ich die Scham im Anschluss darauf so sehr hasste, warum ich Gott um Vergebung bat, aber völlig unfähig war, außer Scham und Angst etwas dabei zu empfinden, warum ich so stolz war, zu denken, ich könnte es alleine schaffen, obwohl es von Tag zu Tag schlimmer mit mir wurde. Offensichtlich kann kein Mensch mit solchen Überzeugungen leben, ohne sich selbst und andere zu zerstören. Eines wusste ich zu dieser Zeit nämlich noch nicht: Gnade ist nicht nur ein Wort.


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... Fortsetzung folgt