Gnade versus Selbstbetrug (4)




Still zu sein ist schwierig.



Nicht unbedingt, weil es langweilig ist, sondern weil es so viel Aufmerksamkeit erfordert; jedenfalls geht es mir immer so. Ich bin nicht mal still, wenn ich nichts tue. Meine Gedanken werden ständig von anderen Dingen fortgezogen. Früher war das noch anders, da war es viel einfacher, nicht ununterbrochen an eine bestimmte Sache zu denken oder einer Phantasie nachzulaufen. Jakobus 1,14 beschreibt diesen unaufhaltsamen Gedankenstrom ziemlich treffend: "Ein jeder aber wird versucht, wenn er von seiner eigenen Begierde fortgezogen und gelockt wird." Begierde ist wie ein Fortgezogen-Werden, das einen mitreißt. Spätestens dann, wenn man nicht mehr aufhören kann, an etwas bestimmtes zu denken, stellt man sich diese Frage: "Was will ich?

Ich stelle mir diese Frage in letzter Zeit ziemlich oft. Wenn ich an Gott denke, vergesse ich Ihn nach ein oder zwei Tagen. Und Gestern erneuerte ich wieder einmal den Entschluss, Gott zu suchen. Ich wusste auch, dass Gott in der Stille zu finden ist, aber es war nicht Stille, die ich wollte. Daraus folgerte ich, dass es mir gar nicht um Gott ging. Mir wurde klar, dass ich Gott nur finden wollte, damit er meine Probleme lösen würde, damit ich einen klaren Kopf hätte, um meine Träume ungehindert zu verfolgen. Ich wollte Gott suchen, aber nicht weil es mir um Gott ging, sondern weil ich etwas von ihm wollte, was nichts mit ihm zu tun hat. Das Ganze ist ziemlich verdreht und widersprüchlich. Unter jedem noch so vorbildhaften Vorhaben verbirgt sich ein Teil der Verderbtheit unseres Herzens. Alles was wir für Gott oder andere Menschen tun, tun wir zum Teil auch aufgrund von Selbstsucht. Das sollte uns nicht daran hindern, für Gott und andere Menschen zu leben: Gott verwendet zerbrochene Stäbe, um Seinen Willen zu erfüllen; Er kann auch Menschen mit selbstsüchtigen Absichten verwenden, um Seine guten Absichten ins Werk zu setzen. Eines sollte uns dabei aber klar sein: Es gibt keine absolut selbstlosen Absichten. Überall schleichen sich die eigenen Wünsche ein. Ein Beispiel: Ich schreibe diesen Beitrag, weil ich zum Teil hoffe, dass meine Einsichten bewundert werden, um Anerkennung zu gewinnen. Man kann sich auf so feinsinnige Weise selbst betrügen. Jetzt gerade, um ein weiteres Beispiel zu geben, bin ich von meiner Ehrlichkeit überzeugt. Aber auch in dem Vorhaben, sich selbst nicht zu betrügen, kann man sich selbst betrügen. Auch in der Absicht, vorbehaltlos ehrlich zu sein, liegt ein gewisser Stolz. Es gibt keine Ausnahme. Es gibt grundsätzlich kein Entkommen vor Selbstbetrug durch eigene Bemühungen.


Nach diesen Gedanken wurde es plötzlich still in mir. Und dann dachte ich an Gott und bereute so Einiges.


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»Sie haben sich hilfesuchend an mich gewandt; ich will Ihnen helfen. Ich bin Arzt. Helfen ist mein Beruf.«
    »Viel zu simpel! Wir wissen beide, dass die Motive der Menschen weit komplexer sind und zugleich weit primitiver. Ich wiederhole meine Frage: Welches sind Ihre Motive?«
    »Die Sache ist so einfach, Professor Nietzsche! Jeder geht seinem Berufe nach: Der Schuster schustert, der Bäcker bäckt, der Doktor doktert. Jeder verdient sich seinen Lebensunterhalt auf seine Weise, übt seinen Beruf aus; meiner besteht darin, zu helfen und Schmerzen zu lindern.«
     Breuer gab sich alle Mühe, überzeugend und überzeugt zu klingen, tatsächlich wurde ihm mulmig. Nietzsches jüngster Schachzug gefiel ihm ganz und gar nicht.
    »Dies sind keine befriedigenden Antworten auf meine Frage, Doktor Breuer. Wenn Sie sagen: ein Doktor doktere, ein Bäcker backe oder ein jeder gehe seiner Arbeit nach, so hat dergleichen nicht das mindeste mit Motiven zu tun; es handelt sich um Gewohnheit. Sie unterschlagen bei Ihrer Antwort: Bewusstheit, Wille, Eigeninteresse. Dann ziehe ich doch die Erklärung vor, man verdiene sich seinen Lebensunterhalt, das wenigstens ist begreiflich. Man muss leben. Und doch verlangen Sie kein Geld von mir.«
    »Ich könnte die Frage ebensogut an Sie zurückgeben, Professor Nietzsche. Sie sagen, Ihre Arbeit bringe nichts ein; warum philosophieren Sie dann?« Breuer hatte Not, nicht in die Defensive zu geraten. Er hatte Schlagkraft eingebüßt, das spürte er.
    »Ah! Aber in einem Behufe unterscheiden wir uns ganz gewaltig. Ich gebe nicht vor, für Sie zu philosophieren, während Sie, verehrter Doktor, als Motiv auf Ihrem Wunsch beharren, mir zu dienen und mein Leid zu lindern. Derlei Behauptungen haben mit menschlichen Beweggründen nichts zu tun, sie gehören der Sklavenmoral an, geschuldet den Verführungskünsten der Priesterkaste! Sezieren Sie Ihre Bewegründe ganz! Sie werden feststellen, dass niemand jemals etwas ausschließlich für andere tut. Alles Tun ist auf das Selbst gerichtet, aller Dienst dient dem Selbst, alle Liebe ist Selbstliebe.«
    Nietzsches Worte sprudelten immer schneller. »Überrascht Sie meine Bemerkung? Vielleicht denken Sie an Ihre Nächsten und Liebsten. Graben Sie tiefer, und Sie werden feststellen, dass es nicht jene sind, die Sie lieben. Was Sie lieben, ist die angenehme Empfindung, die eine solche Liebe in Ihnen selbst weckt! Man liebt zuletzt seine Begierde. Ich frage Sie also erneut: Warum wünschen Sie mir zu dienen? Abermals Doktor Breuer...« - Nietzsches Ton wurde streng - »...welches sind Ihre Motive?«
     Breuer schwindelte. Er bezwang seine ersten Impuls: sich gegen die Hässlichkeit und Krudität der Worte Nietzsches zu verwehren und somit zweifellos dem ganzen ärgerlichen "Kapitel Nietzsche" ein Ende zu setzen. Einen Augenblick lang malte er sich aus, wie der Rücken eines erzürnt aus dem Raum stampfenden Nietzsche seinen Blicken entschwand. Mein Gott, den wäre er los! Wäre die ganze, leidige Sache los! Doch die Vorstellung, Nietzsche nie wieder zu sehen, stimmte ihn traurig. Es zog ihn stark zu diesem Mann hin. Weshalb nur? Ja, welches waren denn seine Motive?
(Irvin D. Yalom, Und Nietzsche weinte, Seite 163-165)


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Was Irvin Yalom in seinem Roman Nietzsche zu Dr. Breuer sagen lässt (der Roman ist übrigens fiktiv; die beiden sind sich nie begegnet) ist nichts anderes, als eine Wiederholung von Römer 3,10-12:

... wie geschrieben steht: "Da ist kein Gerechter, auch nicht einer; da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der Gott sucht. Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer."

Manchmal wünsche ich mir, ich wäre absolut selbstlos. Ich wünschte, ich wäre dieser eine gerechte und verständige Mann, der Gott sucht. Aber ist das nicht ziemlich eingebildet? Warum will ich denn gerecht und verständig sein? Was sind meine Motive? Ich betrüge mich selbst. Gnade kämpft gegen Selbstbetrug mit sehr subtilen Mitteln an. Solange man nicht glaubt, dass man es nötig hat, von Gott beschenkt zu werden, solange wird man Gott nie wirklich schätzen können. Gnade ist immer eine Gabe, die freiwillig geschieht und die man sich nicht verdient hat. Solange man stolz ist und von sich etwas hält, kann man Gnade nicht verstehen, annehmen oder wertschätzen. Man kann sich Liebe nicht erarbeiten, weil geliebt zu sein bedeutet, angenommen zu sein, obwohl man sich nicht liebenswert verhält, obwohl man nicht so lebt, als ob man es wert wäre, geliebt zu sein. Würde man sich Liebe erst verdienen müssen, wäre man gar nicht geliebt, wie man wirklich ist.
    Nicht wir sind es, die selbstlos sind, sondern es ist Christus, der in uns und durch uns wirkt. Wir sind von Ihm abhängig und meistens gefällt mir das nicht wirklich. Es ist mir unangenehm, zuzugeben, dass ich Christus brauche, der mir einen Spiegel vorhält und mir sagt: "Dein Herz ist voll von Selbstsucht. Du kannst ohne mich niemanden lieben". Sein eigenes Herz aus eigener Kraft ändern zu wollen, ist ebenso unmöglich, wie eine Herztransplantation an sich selbst durchzuführen. Menschen lieben zu können, ist ein Geschenk Gottes. Man kann nur weitergeben, was man selbst empfangen hat. 


Und ich werde euch ein neues Herz geben 
und einen neuen Geist in euer Inneres geben; 
und ich werde das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen 
und euch ein fleischernes Herz geben. 
Hesekiel 36,26